Lesbische Beziehungsdynamiken [Psychologin-Interview]

Von Petra Ahrweiler


Lesbische Beziehungsdynamiken - Romanautorin Lina Kaiser interviewt Psychologin Petra Ahrweiler

Lina Kaiser ist Autorin und schreibt Romane über Coming-out und lesbische Liebe.

Sie hat mich auf ihrem Podcast "frauverliebt" zu lesbischen Beziehungsdynamiken interviewt.

Ich spreche mit ihr darüber, 

  • was Beziehungsdynamiken sind und wie sie entstehen
  • was diese Beziehungsdynamiken mit Bindungstypen zu tun habe.
  • wie du Dynamiken in deiner lesbischen Frauenbeziehung erkennen und verändern kannst.

Schau gerne bei Lina Kaiser vorbei und siehe dir auch ihren jüngsten Roman "Zeitlos - verbunden für immer" an.

Das Interview als Podcast-Episode:

Du möchtest das Interview lieber lesen?

Hier findest du das Transkript:

Lina Kaiser: Herzlich willkommen im "Frauverliebt"-Podcast, liebe Petra. Schön, dass du wieder da bist.

Petra Ahrweiler: Hallo, liebe Lina, schön, dass ich bei dir sein darf.

Was sind Beziehungsdynamiken und wie entstehen sie?

Lina Kaiser: Grundlegend müssen wir, glaube ich, erst einmal klären: Was versteht man unter Beziehungsdynamik?

Petra Ahrweiler:

Beziehungsdynamik ist ein Begriff, der aus zwei Worten besteht.

Das Wort "Dynamik" stammt ursprünglich aus dem Griechischen und steht für Kraft oder Macht, oder auch für etwas, das in Bewegung ist, also nicht statisch ist.

Im Zusammenhang mit Beziehungen versteht man darunter die Art und Weise, wie Menschen miteinander agieren – nicht nur aktiv, sondern auch passiv.

Lina Kaiser:

Ich stelle mir das so vor, dass sich in Beziehungen, die ja alle immer ein bisschen unterschiedlich sind, manchmal Verhaltensmuster einschleichen.

Diese Muster führen beispielsweise immer wieder zu denselben Konflikten.

Nehmen wir ein banales Beispiel: die Spülmaschine.

Wenn ein Part sie nicht so einräumt, wie der andere es möchte, führt das wiederholt zu Streitigkeiten. Wäre das ein Beispiel?

Petra Ahrweiler:

Ja, genau. Was du da ansprichst, ist ein schönes Beispiel.

Ich verwende auch oft die Zahnpastatube, die "falsch" ausgedrückt wird, oder die Toilettenpapierrolle, die "falsch" herum aufgehängt ist.

Solche Kleinigkeiten sind oft Stellvertreter für tiefere Themen.

Ich sage immer: Kleinigkeiten gibt es nicht.

Lina Kaiser:

Das ist irgendwie lustig, weil jeder solche Situationen kennt.

Man denkt: "Das ist doch verrückt, darüber zu streiten!"

Es sind Banalitäten, aber wie du sagst, da steckt meist etwas Größeres dahinter.

Was könnte das zum Beispiel sein?

Petra Ahrweiler:

Oft geht es nicht um die Spülmaschine oder die Toilettenpapierrolle an sich, sondern um das Gefühl, ob man wahrgenommen oder wertgeschätzt wird.

Werden meine Bedürfnisse respektiert?

Solche Konflikte entzünden sich dann an vermeintlichen Kleinigkeiten.

Lina Kaiser:

Also wäre es eine Sache von: "Ich habe doch schon zehnmal gesagt, dass ich die Zahnpastatube so und so dastehen haben möchte."

Und wenn das nicht geschieht, könnte man das unbewusst als: "Du liebst mich nicht" interpretieren?

Petra Ahrweiler:

Genau, im Extremfall wird es so wahrgenommen. Dass es nur eine Interpretation ist, passiert meist unbewusst.

Lina Kaiser:

Solche Konflikte gibt es doch sicher in jeder Beziehung. Sie müssen aber nicht unbedingt alarmierend sein, oder?

Petra Ahrweiler:

Nein, das müssen sie nicht. Sie gehören sogar ein Stück weit zum Alltag in Beziehungen.

Lina Kaiser: Wann sollte man sich dennoch Gedanken machen?

Petra Ahrweiler:

Spätestens dann, wenn es immer wieder zu heftigen Streitereien kommt oder sogar Trennungsgedanken aufkommen.

Leider kommen viele Paare erst dann zu mir in die Praxis, wenn die Situation schon sehr verfahren ist und ‚das Kind nur noch mit einem Finger am Brunnenrand hängt‘.

Manchmal kann es dann auch schon zu spät sein. Da kann ich dann auch nichts mehr mit dem Paar reißen. Aber oftmals klappt es noch.

Lina Kaiser:

Es könnte sich also über Jahre hinweg ein Streit um die Spülmaschine so verhärten, dass die Beziehung nicht mehr zu retten ist?

Petra Ahrweiler:

Ja, das ist möglich. Die Spülmaschine ist nur der Auslöser, ein Trigger für tiefere Konflikte. Es geht immer um mehr als das.

Inwiefern haben Beziehungsdynamiken mit den 3 Bindungstypen zu tun?

Lina Kaiser:

Dann lass uns mal näher beleuchten, was dahinter liegen kann.

Ich habe mich jetzt gefragt, ob bei bestimmten Beziehungsdynamiken mit rein spielt, dass es unterschiedliche Bindungstypen gibt.

Petra Ahrweiler:

Ja, das spielt da auf jeden Fall mit rein. Ich habe im Vorfeld ein bisschen recherchiert und festgestellt, dass du auch mal einen Artikel darüber geschrieben hast!

Lina Kaiser: Ja. Das ist schon so lange her, dass ich den jetzt nicht aus dem Kopf gut rezitieren könnte.

Petra Ahrweiler:

Das war lustig. Ich wollte gucken, ob es vielleicht dazu Studien gibt.

Und dann sehe ich plötzlich deinen Blog „frauverliebt“ (lacht). Ich glaube, der Artikel war von 2017. Also es ist wirklich schon lang her.

Bindungstypen spielen definitiv eine Rolle.

Welche Bindungstypen gibt es? Wie entstehen sie? Und woran sind sie zu erkennen?

Petra Ahrweiler:

John Bowlby, ein Entwicklungspsychologe, hat diese Konzepte schon in den 1940er und 1950er Jahre entwickelt.

Er untersuchte, wie Kinder reagieren, wenn ihre Bezugsperson den Raum verlässt und wieder zurückkommt.

Daraus ergaben sich Bindungstypen wie der sichere, der unsicher-vermeidende und der unsicher-ambivalente Bindungstyp. Später wurde noch der desorganisierte Bindungstyp hinzugefügt.

1. Der sichere Bindungstypus

Petra Ahrweiler:

Kinder des sicheren Bindungstypus konnten bei ihren Eltern ein tiefes Vertrauen entwickeln.

Sie haben erlebt, dass es Menschen gibt, auf die sie sich absolut verlassen können.

Und aus dem Grunde ist es den Kindern möglich, ihre Gefühle und Bedürfnisse kommunizieren zu können.

Deswegen können sie später im Erwachsenenalter ganz souverän auf Konflikte reagieren.

Das heißt, sie können zwar auch emotional aufgewühlt sein, aber es geht nicht so in eine Eskalation.

2. Der unsicher-vermeidende Bindungstypus

Petra Ahrweiler:

Beim unsicher-vermeidenden Bindungstyp wird dagegen vermieden, Gefühle auszudrücken.

Damals bei den Studien wurde festgestellt, dass diese Kinder überhaupt nicht darauf reagierten, wenn die Bezugsperson rausgegangen ist.

Das Kind hat nicht geweint oder geschrien.

Dieses Vermeiden des Gefühlsausdruck kann als eine Art Selbstschutz angesehen werden.

Das Kind hatte erlebt: Auf meine Wünsche und Bedürfnisse wurde mit Ablehnung reagiert.

Lina Kaiser:

Ich frage mich: Wie alt waren die Kinder bei diesem Test?

Denn ich habe gerade gedacht: Wenn das Kind nicht reagiert, weiß es vielleicht einfach, dass die Bezugsperson gleich wieder kommt.

Es könnte ein Zeichen für tiefes Vertrauen sein und nicht für einen vermeidenden Bindungstyp.

Es hängt mit dem Alter vom Kind zusammen.

Petra Ahrweiler:

Ich kann leider nicht sagen, wie alt die Kinder waren.

Aber was ich sagen kann: Es sind sehr, sehr viele Studien gemacht worden.

Das zeugt davon, dass es nicht im Zusammenhang mit dem Alter des Kindes zu sehen ist.

Und am Rande wurde erwähnt, was ich in diesem Zusammenhang nachdenkenswert fand:

Wenn das Kind gar nicht emotional reagiert, wird das in Deutschland von vielen Menschen positiv bewertet.

Obwohl es nicht bedeutet, dass es eine positive Reaktion des Kindes sein muss!

Lina Kaiser:

Ich habe gerade versucht, mich in da hineinzuversetzen:

Ich wäre jetzt ein kleines Kind, was in einem Raum sitzt und spielt. Meine Mama würde zwischendurch einfach aufstehen und gehen.

Ich glaube, ich würde wahrscheinlich verwirrt gucken.

Weil es keine Absprache gegeben hat.

Aber ich hätte vermutlich erstmal weitergespielt, weil ich gedacht hätte: „Okay, die kommen bestimmt gleich wieder und ich lasse mir erst mal nichts anmerken.“

Petra Ahrweiler:

Es ist wirklich sehr oft noch mal überprüft worden mit einer Unzahl an Studien.

Und es ist auch die Frage: Wie lange war die Bezugsperson draußen?

Im ersten Moment denkt das Kind vielleicht: „Die kommt gleich wieder.“

Aber dann dauert es doch zu lange.

Lina Kaiser:

Und dann steigt die Panik auf. Das könnte ich mir jetzt auch vorstellen.

3. Der unsicher-ambivalente Bindungstypus

Petra Ahrweiler:

Und dann gibt es diesen unsicher-ambivalenten Bindungstyp.

Dieser Bindungstyp bezieht sich darauf, dass das Kind innerlich hin- und hergerissen ist.

Einerseits hat es ein Nähebedürfnis, wenn die Bezugsperson den Raum wieder betritt. Andererseits verspürt es Ärger über das Verhalten der Erwachsenen, weil diese Person einfach gegangen ist.

Dadurch zeigt sich ein sehr wechselhaftes Verhalten.

Typisch für diese Kinder: sie empfinden es als äußerst wichtig, die Stimmung der Bezugsperson genau einzuschätzen.

Diese Kinder leiden oft stark unter Verlustängsten.

4. Der desorganisierte Bindungstypus

Petra Ahrweiler:

Dann gibt es noch – ich glaube, das wurde über Mary Ainsworth weiterentwickelt – den desorganisierten Bindungstyp.

Der desorganisierte Bindungstyp beschreibt pathologische Verhaltensweisen, wie zum Beispiel, dass ein Kind erstarrt, hin- und herschaukelt oder ein völliges Fehlen von Emotionen zeigt.

Solche Verhaltensweisen treten häufig auf, wenn ein Kind Missbrauch oder Gewalt durch eine nahestehende Person erlebt hat.

Es fehlt ihm dadurch die Möglichkeit, die Person richtig einzuschätzen – mal ist sie äußerst bedrohlich und existenzgefährdend, dann wiederum liebevoll.

Das Kind ist dennoch vollständig von dieser Person abhängig.

Was bei allen Bindungstypen unbedingt beachtet werden sollte

Petra Ahrweiler:

Was mir wichtig ist, wenn es um diese Bindungstypen geht:

Es handelt sich um radikale Beschreibungen.

Im Erwachsenenalter gibt es in der Regel Mischformen.

Man kann also nicht sagen, dass es nur diese vier Typen von Menschen gibt und sonst nichts.

Wichtig finde ich, dass diese Bindungsmuster veränderbar sind – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.

Du kannst dir sicherlich vorstellen:

Auch wenn jemand einen sicheren Bindungstyp entwickelt hat, können traumatische Erlebnisse im Erwachsenenleben dies beeinflussen.

Umgekehrt können Menschen, die als Kinder nicht erfahren haben, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse wahrgenommen, respektiert und berücksichtigt wurden, dies später verändern – vor allem durch positive Erfahrungen und Therapie.

Das halte ich für zentral.

Wie bewirken die Bindungstypen eine Beziehungsdynamik?

Petra Ahrweiler:

Eine Beziehungsdynamik entsteht natürlich, wenn eine Person mit einem vermeidenden und ein Mensch mit einem ängstlichen Bindungstyp aufeinander treffen:

Menschen mit einem vermeidenden Bindungstyp neigen dazu, ihre Gefühle weniger auszudrücken und ein großes Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu haben.

Sie wollen sich oft nicht zu tief einlassen, um Enttäuschungen zu vermeiden.

Menschen mit einem ängstlichen Bindungstyp hingegen suchen oft nach Rückversicherung und benötigen ständig Bestätigung, geliebt zu werden.

Diese Gegensätze können in Beziehungen erheblichen Zündstoff mit sich bringen.

Treten Beziehungsdynamiken in Frauenbeziehungen häufiger oder stärker auf?

Lina Kaiser:

Gibt es typische Beziehungsdynamiken in lesbischen Beziehungen?

Petra Ahrweiler:

Ja, das ist eine spannende Frage.

Ich habe speziell zu diesem Thema noch einmal recherchiert, aber keine spezifischen Studien gefunden.

Was ich jedoch aus meiner Erfahrung sagen kann:

Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren in meiner Praxis und insgesamt seit fast 30 Jahren mit der Beratung lesbischer Frauen.

Diese Erfahrungen habe ich mit den Studienergebnissen, die ich gefunden habe, in Zusammenhang gesetzt.

Ich denke, dass sich bestimmte Dynamiken in lesbischen Beziehungen möglicherweise stärker ausprägen.

Lesbische Frauen müssen oft mehr Herausforderungen im Leben bewältigen als heterosexuelle Frauen.

Das kann auch ein höheres Konfliktpotenzial mit sich bringen.

In einer lesbischen Beziehung treffen zwei Frauen aufeinander, die beide weiblich sozialisiert wurden.

Frauen werden häufig dazu erzogen, für andere da zu sein und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.

Hinzu kommen wirtschaftliche Herausforderungen.

Frauen verdienen im Durchschnitt immer noch weniger als Männer, was zu einer geringeren finanziellen Absicherung führen kann.

Das kann zu Konflikten führen, insbesondere wenn es ums Existenzielle geht.

Was ist der schlimmste und häufigste Grund für lesbische Beziehungsdynamiken?

Petra Ahrweiler:

Ein weiterer Faktor ist, dass Frauen häufiger von Gewalt und sexualisierter Gewalt betroffen sind, was ebenfalls ein zusätzliches Konfliktpotenzial schaffen kann.

Ich habe eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2015 gefunden.

Sie zeigte, dass 32 % der lesbischen Frauen zwischen 14 und 25 Jahren bereits Gewalt oder sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Zum Vergleich:

Bei heterosexuellen Frauen waren es "nur" 20 %.

Lina Kaiser: Wie kommt es zu solchen Zahlen?

Petra Ahrweiler:

Leider geht das aus der Studie nicht hervor.

Eine europäische Studie aus dem Jahr 2014 hat sogar noch höhere Zahlen angegeben:

47 % der lesbischen Frauen berichteten, innerhalb der letzten zwölf Monate Gewalt erlebt zu haben.

Lina Kaiser:

Geht es dabei um Gewalt durch die Außenwelt oder innerhalb der Beziehung?

Petra Ahrweiler:

Beides.

Und das ist ein Punkt, den ich unbedingt ansprechen möchte.

Ich höre oft, dass Frauen denken, Gewalt könne in einer lesbischen Beziehung nicht vorkommen. Doch das stimmt leider nicht.

Es ist ein Tabuthema, über das viel zu wenig gesprochen wird.

Eine Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2016 hat gezeigt, dass Gewalt in lesbischen Beziehungen sogar etwas häufiger vorkommt als in heterosexuellen oder schwulen Beziehungen.

Lina Kaiser: Das finde ich wirklich alarmierend und schockierend.

Petra Ahrweiler:

Ich war sehr überrascht, als ich das gelesen habe.

Wobei man natürlich berücksichtigen muss, dass lesbische Frauen solche Vorfälle vielleicht häufiger zur Anzeige bringen.

Es könnte bedeuten, dass es für schwule Männer eventuell noch schwieriger ist, sich an die Polizei zu wenden – insbesondere, wenn es darum geht, dass ein Mann von einem anderen Mann geschlagen wird.

Das hängt auch mit den gesellschaftlichen Vorstellungen von Männer- und Frauenbildern zusammen und macht es möglicherweise noch schwerer.

Das ist eine Vermutung von mir, mehr konnte ich aus diesem Artikel leider nicht entnehmen.

Wichtig ist jedoch, dass es auch Unterschiede in der Art der Gewalt gibt.

Wenn wir von Gewalt in lesbischen Beziehungen hören, denken viele vielleicht direkt an Schläge oder körperliche Gewalt.

Es gibt aber auch andere Formen von Gewalt.

In der BKA-Studie wurde deutlich, dass in lesbischen Beziehungen weniger schwere körperliche Gewalt vorkommt.

Aber dafür wurde häufiger psychische Gewalt oder kontrollierende Verhaltensweisen, wie beispielsweise Stalking, zur Anzeige gebracht.

Lina Kaiser:

Ich denke gerade: In welche Richtung driftet unsere Folge?

Dass wir plötzlich über solche düsteren Themen sprechen, hätte ich nicht erwartet.

Petra Ahrweiler:

Ja, ich habe auch noch etwas Positives dazu zu sagen.

Aber ich finde es einfach wichtig, diese Themen anzusprechen, weil sie im Zusammenhang mit Beziehungsdynamiken eine Rolle spielen.

Ich habe solche Fälle auch in meiner Praxis erlebt.

Zum Beispiel hatte ich einmal eine Klientin, die in einer gewaltvollen Beziehung mit einer anderen Frau war und sich nicht daraus lösen konnte.

Ich habe sie über einen längeren Zeitraum begleitet, bis sie den Schritt geschafft hat, sich zu trennen.

Wenn man das Ganze im Kontext von Bindungstypen betrachtet, geht es oft darum, ob man sich überhaupt traut, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu äußern.

Viele fragen sich: "Bin ich vielleicht selbst schuld an dem, was mir passiert?"

Solche Gedanken sind oft eng mit Gewalterfahrungen verwoben.

Lina Kaiser:

Das sind wirklich alarmierende und verstörende Informationen.

Petra Ahrweiler:

Ja, aber ich finde es wichtig, die Augen davor nicht zu verschließen.

Das bedeutet nicht, dass lesbische Beziehungen per se problematisch sind.

Ich möchte nur verdeutlichen, dass es besondere Herausforderungen und Belastungen gibt, die lesbische Frauen treffen können – oft von außen kommend.

Wie verinnerlichte Homophobie und der Druck auf „Late Bloomer“ sich bei einem späten Coming out belastend auswirken

Petra Ahrweiler:

Es gibt zum Beispiel immer noch Abwertungen gegenüber lesbischen Frauen, was zu einer verinnerlichten Homophobie führen kann.

Das bedeutet, dass wir manchmal unbewusst negative Bilder über uns selbst oder unsere Partnerinnen verinnerlichen. Das wird „verinnerlichte Homophobie“ genannt.

Vorurteile wie beispielsweise:

Lesbische Beziehungen seien nicht so stabil wie heterosexuelle Beziehungen.

Ein weiterer belastender Faktor ist, dass manche Frauen nicht offen leben und ein Doppelleben führen.

Das kann für eine Beziehung sehr schwierig sein, besonders wenn eine Partnerin offener leben möchte als die andere.

Ich habe oft mit Frauen gesprochen, bei denen diese Dynamik ein Problem war – besonders im Zusammenhang mit einem späten Coming out.

Da gibt es die eine Frau, die noch in einer Beziehung mit einem Mann ist, vielleicht auch noch Kinder hat. Diese Frau ist ein sogenannter „Late Bloomer“, übersetzt bedeutet das „Späterblüher“.,

Und die Partnerin hat immer Frauenbeziehungen geführt. Sie will natürlich auch wissen, woran sie ist - und macht Druck.

Für die Frau im späten Coming-out ist das aber häufig zu viel, da sie viel zu verlieren hat und oft noch nicht weiß, wo sie steht.

Und das alles geht für Frauen im späten Coming-out einfach viel zu schnell. Sie wissen auch noch nicht so recht, ob das mit der neuen Frau beständig sein wird.

Diese neue Beziehung mit einer Frau... das kann zu einer großen Belastung werden.

(Lesetipp: Als Frau heimlich in eine Frau verliebt: 5 Schritte, mit denen du die Qual des Doppellebens loswirst)

Weshalb Eifersucht und der Kontakt zur Ex bei queeren Frauen oft einen anderen Stellenwert hat

Petra Ahrweiler:

Und dann kommt noch hinzu, dass die Szene relativ klein ist.

Dadurch können Verlustängste bei diesen Beziehungstypen noch viel stärker werden.

Die Angst, keine neue Partnerin mehr zu finden, kann sich auf die Beziehung auswirken und auch Eifersucht verstärken.

Schließlich haben viele Frauen bereits Erfahrungen mit Beziehungen zu anderen Frauen und bleiben oft mit ihren Ex-Partnerinnen befreundet.

Das kann für eine neue Partnerin schwierig sein, besonders im Hinblick auf Eifersucht.

Studien bestätigen übrigens, dass das kein Einzelfall ist.

Lina Kaiser:

Warum bleiben Frauen häufiger mit ihren Ex-Partnerinnen befreundet?

Petra Ahrweiler:

Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass zur Partnerin oft nicht nur eine Liebesbeziehung besteht, sondern auch eine enge Freundschaft.

Die Nähe und Verbundenheit sind häufig stark, und das bleibt auch nach einer Trennung bestehen.

Und es gibt weitere positive Aspekte:

Wenn eine sichere Bindung besteht, also Vertrauen, Verständnis für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, dann kann das zu einer viel tieferen Nähe und Verbundenheit führen.

Frauen können sich oft besser in die Situation der Partnerin hineinversetzen, besonders bei Themen wie Diskriminierung.

Leider ist es eine traurige Realität, dass schätzungsweise jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Gewalt erlebt.

Ich beziehe mich hier nicht auf Gewalt in lesbischen Beziehungen, sondern auf Gewalt durch Männer.

Vorteile in vielen lesbischen Beziehungen

Petra Ahrweiler:

Eine Frau kann aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen besser nachvollziehen, was Diskriminierung, Gewalt und Stigmatisierung bewirken.

Sie kann sich in eine Situation hineinversetzen, in der eine andere Frau solche Erfahrungen macht.

Es gibt ja dieses Buch, das als eine Art Wörterbuch konzipiert ist, in dem Begriffe und Erfahrungen von Frauen und Männern gegenübergestellt werden.

Das soll verdeutlichen, wie unterschiedlich Männer und Frauen bestimmte Situationen wahrnehmen und interpretieren.

Bei Frauen ist diese Verständigung oft einfacher, da sie ähnliche Erfahrungen teilen.

Es gibt auch das bekannte Klischee, dass Lesben nach dem zweiten Date schon den Umzugswagen rufen (lacht).

Vielleicht hat das auch mit dieser intensiven Nähe und Verbundenheit zu tun.

Lina Kaiser:

Ja, das geht jetzt auch mehr in die Richtung, an die ich gedacht hatte, als ich über Beziehungsdynamiken nachgedacht habe.

Also ich habe da gar nicht an die eben erwähnten gewalttätigen Dynamiken gedacht. Aber gut, dass sie zur Sprache kamen.

Ich war mehr bei dem Klischee, dass Frauen schneller zusammenziehen wollen. Das passt zu dem, was du gesagt hast:

Dass sich zwischen Frauen oft schnell eine intensive Nähe aufbaut.

Und auch, dass Frauen eher dazu tendieren, nach Beziehungsenden befreundet zu bleiben, spricht dafür.

Für diese intensive Nähe, die man vielleicht beibehalten möchte.

Spannend.

Wie können Rollenerwartungen und belastende Beziehungsdynamiken in Frauenbeziehungen vermeiden werden?

Lina Kaiser:

Inwiefern könnten unklare Rollen in Beziehungsdynamiken einfließen?

Nicht, dass es immer klare Rollen geben muss.

Aber wenn man in einem Haushalt mit traditionellen Geschlechterrollen aufgewachsen ist -wo der Vater arbeitet und die Mutter zu Hause bleibt - dann hat man bestimmte Vorstellungen davon, wie Beziehungen funktionieren.

Und wenn man dann in eine lesbische Beziehung kommt, kann das zu Konflikten führen, weil man sich fragt:

Wer übernimmt welche Rolle?

Petra Ahrweiler:

Ja, ich denke, das ist eher eine Chance als ein Problem.

Frauen können diese Fragen offen ansprechen und gemeinsam Lösungen finden.

Sie haben mehr Freiraum, ihre Beziehung individuell zu gestalten.

Außer natürlich, wenn es ganz klares, klischeemäßiges Labeling gibt, wie:

"Du bist die Butch und ich bin die Femme."

Lina Kaiser:

Ja, ich glaube schon, dass so etwas manchmal automatisch und unbewusst abläuft, ohne darüber zu sprechen.

Gerade in der Kombination Butch-Femme.

Dass der einen Frau mehr die maskulineren Tätigkeiten und Eigenschaften und Verantwortungen zugeschrieben werden als der anderen.

Petra Ahrweiler:

Ja, das kann ich mir vorstellen.

Wichtig ist, offen miteinander zu sprechen.

Ich denke nicht, dass Rollen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen festgefahrener sind als in heterosexuellen.

Vielleicht wird weniger darüber gesprochen.

Und wenn eine Frau bestimmte Erwartungen nicht erfüllt, wird das vielleicht toleranter gesehen.

(Lesetipp: Wie du deine sexuelle Orientierung findest, ohne deinen Partner oder deine Mutter zu blamieren)

Wie hängen Geschlechterrollen, Bindungsstile und sexuelle Orientierung zusammen?

Petra Ahrweiler:

Ich habe dazu eine interessante Studie gefunden.

Eine italienische Studie aus dem Jahre 2019, die in der Zeitschrift Sexual Medicine 2020 veröffentlicht worden ist, hat den Zusammenhang zwischen Geschlechterrollen, Bindungsstil und sexueller Orientierung untersucht.

Zum Thema Geschlechterrollen gab es einen Fragebogen und die sexuelle Orientierung wurde anhand der Kinsey Skala erfasst.

Wer die nicht kennt:

Kinsey hat schon in 1950er und 1960er Jahren eine Skala von 0 bis 6 entwickelt.

Das eine Ende der Skala ist Homosexualität, das andere Ende ist Heterosexualität, und dazwischen gibt es mehrere Zahlen, auf denen man sich auch verorten konnte.

Vereinfacht gesagt, kam in der Studie heraus:

Menschen, die sich eher männlich identifizieren, haben oft einen vermeidenden Bindungsstil.

Sie haben also ein höheres Bedürfnis nach Unabhängigkeit und drücken ihre Gefühle weniger aus.

Wünsche und Bedürfnisse werden nicht so viel geäußert, weil erlebt wurde, dass solche Bedürfnisse und Wünsche zurückgewiesen worden sind.

Menschen, die sich eher weiblich identifizieren, haben oft einen ängstlichen Bindungsstil. Sie sind unsicherer.

Sie prüfen, wie ist die andere Person drauf? Sie vergewissern sich, um mit Verlustängsten umzugehen.

Interessanterweise wurde kein direkter Zusammenhang zwischen sexueller Orientierung und Geschlechterrolle gefunden.

Und das Zeigen von Gefühlen und Empathie wurde eher als weibliches Verhalten interpretiert.

In der Studie, an der zu zwei Dritteln Frauen teilnahmen, waren die Schwierigkeiten, Emotionen zu erkennen und auszudrücken, geringer.

Bei den Männern war das deutlich ausgeprägter.

Was haben die Bindungstypen und Geschlechterrollen mit psychischer Gesundheit zu tun?

Petra Ahrweiler:

Aus den Ergebnissen der Studie wurde deutlich, dass ein sicherer Bindungsstil – also die Fähigkeit, Gefühle und Bedürfnisse gut zu kommunizieren – mit Androgynie zusammenhängt.

Das bedeutet, ein Gleichgewicht von männlichen und weiblichen Eigenschaften in sich selbst anzuerkennen, ist ein Zeichen für psychische Gesundheit.

Ich fand diese Studie, die von 2019 bis 2020 durchgeführt wurde, sehr spannend.

Ich habe es so verstanden:

Erkenne deine weiblichen und männlichen Anteile in dir und in deiner Partnerin an, dann tust du was für deine psychische Gesundheit.

Dann klappt das auch alles besser mit dem Ausdrücken von Gefühlen und Bedürfnissen.

Und das bewirkt im Umgang mit Konflikten, dass die besser lösbar werden.

(Lesetipp: Als Frau verliebt in eine Frau? 10 Anzeichen und 4 Wege zur Selbstfürsorge)

Wie kann mit einer Beziehungsdynamik am besten umgegangen werden?

Lina Kaiser:

Das klingt sehr einleuchtend.

Wenn wir jetzt auf alltägliche Beziehungssituationen zurückkommen, beispielsweise die Situation mit der Spülmaschine, wie erkennt man denn eine bestimmte Beziehungsdynamik?

Und wie geht man damit am besten um?

Petra Ahrweiler:

Es ist hilfreich, sich mit den verschiedenen Bindungsstilen auseinanderzusetzen und zu reflektieren, welcher Stil eher auf einen selbst zutrifft.

Man kann auch überlegen, in welchen Situationen man bisher Kritik erhalten hat.

Zum Beispiel: "Du bist nur an deiner Arbeit interessiert."

Das kann Hinweise auf eigene Muster geben.

Und auch zu überprüfen:

Was kenne ich an Verhalten vielleicht auch aus meiner Kindheit?

Hatte ich das Gefühl, dass ich bei meinen Eltern immer gut meine Gefühle ausdrücken konnte?

Oder habe ich immer befürchtet, dass ich dann Liebesentzug bekomme.

Oder hat es nicht gezählt, was mir wichtig war?

Es ist wichtig, über solche Dinge mit der Partnerin zu sprechen und bei sich selbst zu bleiben.

Wenn es um die Spülmaschine geht, sich zu fragen:

Was steckt eigentlich für mich dahinter?

Ohne Vorwürfe zu machen.

Dabei bei sich selbst bleiben. Bei deinen Gefühlen. Bei deinen Bedürfnissen. Nicht sagen: „Du hast…“ und „Du bist…“

Deine Gefühle und Bedürfnisse sind immer richtig. Du bist Fachfrau für dich.

Wenn du feststellst, dass du in bestimmten Situationen immer wieder dieselben Muster wiederholst, können Gespräche mit anderen Menschen oder eine Therapie hilfreich sein.

Denn unsere Kindheitserfahrungen prägen uns stark.

Und belastende Situationen, die wir als Erwachsene erleben, ebenso.

Das alles kann sich auf unsere Beziehungen auswirken.

Aber es ist veränderbar und bietet die Möglichkeit, über sich hinaus zu wachsen und sich weiter zu entwickeln.

Beispielsweise durch Therapie.

Lina Kaiser:

Ja, das war jetzt eine Reihe Tipps. Sehr, sehr cool. Damit sind wir am Ende meiner Fragen zu dem Thema. Es gibt einige Dinge, die ich erstmal für mich verarbeiten muss.

Petra Ahrweiler: Das denke ich mir.

Lina Kaiser:

Ich bedanke mich erstmal bei dir für deinen fachkundigen Einblick in die Thematik der Beziehungsdynamiken.

Möchtest du noch was zum Abschluss der Folge sagen?

Buchtipps zum späten Coming out und zu Gewalt in Frauenbeziehungen

Petra Ahrweiler: Ich möchte gerne noch zwei Buchtipps geben.

Das Buch „Es fühlt sich endlich richtig an - Erfahrungen mit dem späten Coming out“ von Helga Woschitz ist leider schon etwas älter.

Es richtet sich an Frauen und Männer im späten Coming out, die schon 50 oder 60 Jahre alt sind.

Zum Thema Gewalt in lesbischen Beziehungen hat Konstanze Ohms sehr viel geforscht. Ihr Buch heißt: „Mehr als das Herz gebrochen - Gewalt in lesbischen Beziehungen“.

Lina Kaiser:

Vielen Dank für deine Expertise. Für die Gedanken und die Tipps.

Vielleicht hören wir uns ja demnächst noch mal wieder für eine Folge.

Petra Ahrweiler:

Ja, sehr, sehr gerne. Das sind natürlich Themen, die mir selber sehr am Herzen liegen und da bin ich immer gerne dabei.

Und ich bin auch gerne zukünftig auch noch mal wieder bei dir im Podcast dabei, wenn es um psychologische Themen gibt.


Gehe deinen Weg, jetzt!

Von Herzen alles Gute dabei wünscht dir 

Petra Ahrweiler

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Petra Ahrweiler

Ich bin Psychologin, Paar- und Familientherapeutin.

Seit mehr als 20 Jahren verhelfe ich lesbischen Frauen (und denjenigen, die es vielleicht werden wollen) zu  klarer Sicht und sicheren Schritten auf dem Weg zu Lebensfreude, Harmonie und innerer Ruhe.

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